Fünf herausragende Designs für den Alltag

Praktisch jede Definition des Begriffs «Design» ist zum Scheitern verurteilt – was mich jedoch nicht von Definitionsversuchen abhält.

Jedes menschliche Artefakt lässt sich in einer grossen Grafik darstellen, deren Funktionskurve beim hastig aufgelesenen Faustkeil des Höhlenmenschen beginnt und in einem wohl durchdachten, erlesenen Kunstwerk kulminiert. Das eine ist von brutaler Effizienz, das andere ist wunderschön, hochgeistig, erhebend und ohne jeglichen praktischen Nutzen. Design laviert zwischen diesen Extremen: nützliche Objekte mit einem Hauch von Intellekt und Kunst.

Die schwierigste aller Designaufgaben ist die simple Wohnstatt. Das Design eines Hauses scheint den Menschen an die äussersten Grenzen seiner Möglichkeiten zu bringen. Die funktionellen und ästhetischen Spielarten sind so unüberschaubar, dass die Anzahl der potenziellen «Lösungen» gegen unendlich geht. In der Tat ist «Lösung» nicht das ideale Wort, um den Abschluss eines Designprozesses zu beschreiben. Was Designer als neue «Lösung» bezeichnen, ist oft nur ein altes Problem im neuen Kleid. Bisweilen scheint es, dass uns die Probleme nie ausgehen werden.

Vom Haus als Maschine zu Objekten unumstösslicher Perfektion

Nach beinahe einem Jahrhundert modernistischer Autokratie zeigt sich die gegenwärtige Ära eher pluralistisch. Im Jahr 1926 stellte Margarete Schütte-Lihotzky ihre «Frankfurter Küche» vor, das Vorzeigeobjekt des sozialen Wohnungsbauprogramms von Ernst May in Hessen. Die Küche erinnert ein wenig an das Innere eines U-Boots und stellt die wohl gelungenste Annäherung an Le Corbusiers beklemmenden Traum vom Haus als «Wohnmaschine» dar. Es ist ein Design von gar prächtigem Selbstbewusstsein und – aus der heutigen Perspektive klar erkennbar – Ausdruck der Vergänglichkeit des Geschmacks, kurz: ein Nachweis der flüchtigen Verliebtheit des Architekten in die Maschine.

Fünf herausragende Designs für den Alltag

Heutzutage sind wir – vielleicht – geneigt, ländlichere Küchen mit toskanischem Flair zu bevorzugen. Sofern uns der Sinn überhaupt nach einer Küche steht. Denn die Welt entmaterialisiert sich zunehmend. Uber ist ein Transportunternehmen und besitzt keine Fahrzeuge. Airbnb ist das weltgrösste Hotellerieunternehmen und besitzt kein Hotel. In Manhattan und London sägt die Lieferung frei Haus von Onlinebestellungen sozusagen am Stuhlbein der lokalen Restaurants. Natürlich werden die Menschen weiterhin zum Essen gehen, doch individuelle Restaurantküchen könnten eines Tages durch eine Zentralküche ersetzt werden, die alle möglichen Absatzstellen bedient. Die Generation Y verschmäht die grossen Marken, und unter Mobilität verstehen die Millennials eher ein Smartphone als ein Auto. Indessen wird daheim in der guten Stube das herkömmliche Verständnis von Häuslichkeit infrage gestellt.

In turbulenten Zeiten wie diesen können diese einfachen, heimeligen Objekte, die eine Art unumstösslicher Perfektion erreicht haben, tröstlich wirken. Kunsthistoriker bezeichneten dies einst als «zeitlose Kunst» und meinten damit Kunstwerke, die Modeerscheinungen überdauerten und jede Altersgruppe ansprachen. Natürlich gibt es so etwas wie zeitlose Kunst nicht wirklich, da unser Konzept der Zeitlosigkeit durch die Tatsache unserer eigenen Vergänglichkeit bedingt ist.

Qualität vom Mittelmass unterscheiden

Dennoch ist es eine edle Mission, stets nach dem Besten zu streben. Zu bestimmen, wie wir Qualität vom Mittelmass unterscheiden. Zu entscheiden, welche Werte wirklich Bestand haben. Und diese Denkweise ist verblüffend selten, da Designer stets auf Veränderungen abzielen, selbst wenn sie nach dauerhaften «Lösungen» suchen. Trotzdem gibt es einige wenige Designs, die das grosse Ziel der Zeitlosigkeit erreicht haben – sie bieten Perfektion zu moderaten Kosten. Was mehr ist, als man von Kunst normalerweise behaupten kann. William Morris beharrte darauf, dass man im eigenen Zuhause nichts zulassen sollte, das man nicht als nützlich oder schön empfindet. Zu Morris’ Zeiten war das ein ultramontanes Ziel. Heutzutage ist es ein Kinderspiel: Die besten Designs zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass sie Schönheit und Nützlichkeit vereinen.

"All diese Designs bestätigen, dass menschliches Dasein mehr ist als eine vorübergehende und zufällige Kombination von Kohlenwasserstoff- molekülen im Chaos des unendlichen Raums."

Stephen Bayley
  1. Sparschäler Rex Modell 11002, 1947

Alfred Neweczerzal (1899 bis 1958) war ein Zürcher Metallarbeiter, der seine Werkstatt in einem Keller in der Birmensdorferstrasse hatte. Im Jahr 1936 (in dem er auch sein erstes Patent erhielt) begann er, mit Gemüseschälerdesigns zu experimentieren. Elf Jahre später hatte er das bescheidene Handwerkzeug zu einem Gerät perfektioniert, das sowohl schön als auch nützlich war. Ein Rex-Schäler funktioniert vorzüglich – miniaturisierte Schweizer Präzision im Schüttstein also. Wie alle guten Designs kann es durch Hinzufügen oder Weglassen einer Komponente nicht mehr verbessert werden. Der Rex gehört genauso zur Schweizer Identität wie ein Taschenmesser von Victorinox oder eine von Max Bill entworfene Junghans-Uhr und war auch schon auf Briefmarken abgebildet. Er ist eine nicht verbesserungsfähige Urgewalt.
www.zena.ch

Fünf herausragende Designs für den Alltag
  1. Stuhl Modell 670 und Ottomane Model 671 von Herman Miller, 1956

Charles Eames (1907 bis 1978) war der US-amerikanische Designer schlechthin und von geradezu heroischer Statur. Er war der Meister der 50er-Jahre-Moderne – in einer Epoche, in der ein noch unschuldiges Amerika vom eigenen Selbstbild verzaubert war. Eames wollte dem amerikanischen Traum Form geben: Die vorherrschende Meinung zu seiner Zeit war, dass ein Design sowohl europäisch als auch unbrauchbar sein musste, um zu reüssieren. Eames hingegen wollte eine eigene amerikanische Designsprache schaffen. Zwar erinnert das Modell 670 (entworfen in Zusammenarbeit mit Eames’ Freund Billy Wilder – dem Regisseur und Produzenten von «Manche mögen’s heiss») an alte englische Clubsessel, aber es war auch vom uramerikanischen Baseballhandschuh inspiriert. Bei seiner Herstellung kamen fortschrittliche Gusstechniken zum Einsatz, doch es erhebt auch Anspruch auf die historischen Elemente unserer Fantasie. Als Sitzmöbel ist es ausgesprochen bequem – es kann also perfekte Funktion für sich beanspruchen. Ein Stuhl von Eames altert auch wunderschön und erwirbt im Lauf der Zeit eine delikate Patina. Zudem besitzt er robusten Charme, was bei modernen Möbelstücken eher Seltenheitswert hat.
www.hermanmiller.com

Fünf herausragende Designs für den Alltag
  1. Lampe, Modell 1227, «Anglepoise», 1935

George Carwardine (1887 bis 1947), seines Zeichens Ingenieur, hatte sich auf Fahrzeugaufhängungen spezialisiert. Seine Fachkenntnisse über Federungen sind massgeblich in das Design der Anglepoise-Lampe eingeflossen: Der Gelenkarm ahmt den menschlichen Knochenbau nach, und die vier Federn am unteren Ende ermöglichen uneingeschränkte Justierbarkeit – sie funktionieren im Prinzip genauso wie die menschliche Armmuskulatur. Die Lampe wurde von Herbert Terry and Sons Ltd., einem Federfabrikanten in Redditch, entwickelt. Was die Form angeht, überzeugt die Anglepoise durch aufregende Schlichtheit: Sie ist ganz einfach eine Beleuchtungsmaschine. Die Anglepoise von Carwardine, die nach wie vor in vielerlei Varianten hergestellt wird, ist die am häufigsten imitierte Lampe aller Zeiten. Jacob Jensens Luxo aus dem Jahr 1937 ist eine Weiterentwicklung dieser ursprünglichen Idee. Erst kürzlich wurde das Design von Kenneth Grange neu interpretiert, ohne dabei die Integrität des Originals zu beeinträchtigen.
www.anglepoise.com

Fünf herausragende Designs für den Alltag
  1. Espressokanne «Moka Express» für den Herd, 1933

Im modernen Design geht es sowohl um die Ästhetisierung alltäglicher Objekte wie auch um die Demokratisierung des Luxus. Dieser Satz klingt kompliziert, doch im Grunde bedeutet er lediglich, dass man Alltagsobjekte schön und Besonderes alltäglich macht. Vor Alfonso Bialetti (1888 bis 1970) galten Espressomaschinen als teure, diffizile Apparate. Erst seine geniale Moka Express brachte hervorragenden Kaffee um wenig Geld in die heimische Stube. Bialetti war ein Piemonteser Metallarbeiter. Sein Einsatz von Aluminium war gewagt, doch die facettierte Form verweist auch auf ehrwürdigen Klassizismus. Die Moka Express ist aussergewöhnlich einfach, da sie keinerlei bewegliche Elemente hat. In Montage und Nutzung ist sie eine Hommage an sorgsam vollzogene Kaffeerituale und injiziert so einen Hauch von Dolce Vita in den Alltag. Die liebenswerte Karikatur des «l’omino con i baffi» (des schnurrbärtigen kleinen Mannes) erschien erstmals 1953 auf der Kanne. Die Moka Express selbst hat sich seit ihrer Einführung nicht verändert.
www.bialetti.it

Fünf herausragende Designs für den Alltag
  1. Mülleimer, Modell 901, 1957

In der Zen-Lehre heisst es: Egal, wie wahr etwas sein mag, das Gegenteil ist wahrer. Sagen Sie sich das am besten immer wieder vor, während Sie mit gebannter Aufmerksamkeit die Raffinesse des Mülleimers, Model 901, von Saito bewundern. In den Augen eines grossen Designers ist ein bescheidenes Objekt ebenso beachtenswert wie ein komplexes oder erhabenes. «Ein einfaches Ziel ist nicht immer eine simple Sache», sagt Isamu Saito, Designer der weltschönsten Papierkörbe. Während des Zweiten Weltkriegs, als Metall Mangelware war, arbeitete Saito an der Entwicklung von Treibstofftanks aus Sperrholz für das Militär. 1950 eröffnete er sein eigenes Holzverarbeitungsunternehmen in der Präfektur Shizuoka. Eigentlich ist es eher eine Werkstatt als ein Unternehmen. Saito Wood beschäftigt auch heute nur 15 Mitarbeitende, obwohl der Gründer seit 1966, als er den japanischen Good Design Award gewann, eine Berühmtheit ist. Wiewohl industriell gefertigt, sind seine schlichten Produkte stets von traditionellen Handwerkstechniken inspiriert. Die japanische Kultur ermutigt die Wertschätzung für Materialien, da ihre wahre Natur so besser verstanden werden kann: Saito behauptete, dass mit Sperrholz subtilere Formen als mit natürlichem Holz erzielt werden können. Sein Modell 901 ist schlicht, aber raffiniert, schön, aber bescheiden, funktional, aber unzerstörbar.
www.saito-wood.com

Fünf herausragende Designs für den Alltag

Letztendlich sorgen all diese Designs dafür, dass wir uns in unserer Haut wohler fühlen. Sie würdigen das Leben und bestätigen – wenn denn eine Bestätigung nötig wäre –, dass menschliches Dasein mehr ist als eine vorübergehende und zufällige Kombination von Kohlenwasserstoffmolekülen im Chaos des unendlichen Raums und seiner fiesen schwarzen Löcher. Leben bedeutet, das Drama des Daseins zu geniessen … Und ein guter Sparschäler ist da Gold wert. Dasselbe gilt für einen fabelhaften Stuhl, eine Lampe, einen Mülleimer und eine Espressomaschine.

Sie sind die wahren Botschafter einer Welt jenseits der Natur. Kleine Denkmäler an den Einfallsreichtum und konkrete Belege für unseren Hunger nach Schönheit. Das tagtägliche Geschenk von praktischem Vergnügen – auch so kann man «Design» definieren. Vermutlich brauchen wir mehr davon.

Nützlich und schön.

Stephen Bayley Stephen Bayley ist ein Britischer Design- und Kulturkritiker, Journalist und Autor. Er schreibt unter anderem für Vanity Fair, Financial Times, The Telegraph und die Süddeutsche Zeitung. http://www.stephenbayley.com/

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